Kurzfassung

-Die Globalkultur ist ein weltweit verbreitetes Referenzsystem, und das Internet ermöglicht den Dialog über verschiedene Kulturinterpretationen.

-Die Kommunikations- strukturen sind westlich geprägt, aber die diversen Völker werden sich das Internet für ihre eigenen kulturellen Zwecke aneignen.

-Ein Dialog ist notwendig geworden, und zur Dialogkultur gehört die Bereitschaft, aus dem kulturellen Wissen anderer lernen zu wollen. Wer mitmachen will, muß sich an die Regeln der Toleranz halten.

-Durch moderne Medien werden vom Aussterben bedrohtes Wissen, indigene Sprachen etwa, verbreitet und wiederbelebt. Und die neuen Medien werden für etliche Hilferufe, Kontaktaufnahmen geschäftlicher und politischer Art genutzt.


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Das heißt nicht, daß die meisten Gesellschaften nicht ethnozentrisch sind






























Ich hoffe, daß sich unter den globalen Werten auch der der Toleranz findet






























Auch globale Medien werden von den Menschen höchst unterschiedlich interpretiert


































In den Vereinigten Arabischen Emiraten nutzen Geschäftsfrauen das Netz und umgehen so das Verbot ihrer Männer



































Das Netz lebt von einzelnen Teilnehmern, nicht von politischen Strukturen



















Die Transparenz von Herrschaftswissen ist überall für die Menschen von Nutzen





"Das zeitgenössische Stadium unserer noch unvollständig globalisierten Welt ist durch etwas geprägt, das ich 'kulturvergleichendes Bewußtsein' nennen würde",


ein E-Mail-Diskurs mit der Ethnologin Joana Breidenbach


zum Thema: Frau Dr. Breidenbach, im herrschenden Diskus zur Bedeutung des Internets für den Süden kommt eine Stimmung zum Ausdruck, die eine allgemeine Vernetztheit hinsichtlich neuer Entwicklungschancen als eine notwendige Rahmenbedingung betrachtet, obwohl allein schon die Realisierung dieses Projekts utopisch ist. Demnach wären Armut, politische Unterdrückung, Mißwirtschaft und vieles mehr weit besser zu bekämpfen, wenn eine so billige und effiziente Kommunikationstechnologie wie das Internet allen Menschen zur Verfügung stünde.

Diese Vision setzt allerdings eine wesentliche Annahme voraus: daß nämlich bereits eine universelle Kultur des "globalen Dorfes" herrschen würde, daß somit die westlichen Vorstellungen von der "wahren" Entwicklungs- und Fortschrittsrichtung und den damit verbundenen, notwendigen Wandlungs- oder Akkulturationsprozessen bereits weltweiter Common Sense seien. Die Web-Vision nimmt auch eine universelle Kommunikationskultur an. Man müsse somit lediglich die Menschen aus den Slums von Johannesburg mit den Fundamentalisten in Bangladesch vernetzen, und Prozesse wie gegenseitiges Verständnis und Entwicklung würden sich auf wundersame Weise von selbst vollziehen. Wie beurteilen Sie diese "Arbeitshypothese" der Internet-Apologeten?

Joana Breidenbach: Die Annahme, erfolgreiche Internetkommunikation setze ein globales Dorf mit einer einheitlichen Kultur voraus, trifft meines Erachtens nicht zu. Natürlich sind eine Vielzahl von Waren, Medien, Ideen und Institutionen weltweit verfügbar, aber daraus dürfen wir nicht schließen, daß alle kulturellen Unterschiede verschwinden. Globalisierung führt nicht zu einer globalen Kulturschmelze. Alleine aus der ethnologischen Erforschung der Lebenswelten weltweit lassen sich zahlreiche Beispiele dafür anführen, daß Menschen weniger passiv von Fremdeinflüssen überrollt werden, als sie aktiv und selektiv in ihr Weltbild integrieren. Sie nehmen Fremdes an, um dabei - wie es der Ethnologe Marshall Sahlins formuliert - "mehr wie sie selbst zu werden".

In diesem Sinne kann man die entstehende "Globalkultur" nur als ein weltweit verbreitetes Referenzsystem betrachten: Immer mehr Strukturen und Begriffe sind weltweit verfügbar, die Art und Weise, wie Menschen sie aber ausfüllen und interpretieren etc., ist völlig offen. Diesen Prozeß kann man in den unterschiedlichsten Sparten beobachten: Ideen wie Menschenrechte, Demokratie und Feminismus werden von verschiedensten Gruppen ebenso unterschiedlich interpretiert, wie Waren a la McDonalds und Coca Cola in verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen werden.

Das Internet ist ein Medium, welches einen Dialog über diese verschiedenen Ausprägungen und Bedeutungsveränderungen möglich macht. Durch das weltweite Referenzsystem (und die englische Sprache als lingua franca) können Menschen verschiedenster kultureller Herkunft überhaupt erst einen Dialog miteinander eingehen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausloten.

zum Thema: Gibt aber nicht gerade die technologisch geprägte Struktur der Internet-Kommunikation einen kulturellen Rahmen vor, der durch die wissenschaftlich-technische Kultur des Westens geprägt ist - etwa durch den Ausschluß oraler Kulturen bzw. überhaupt der Körpersprache?

Joana Breidenbach: Ja, das stimmt. Dennoch wäre es meines Erachtens falsch, diese Entwicklung als ein Nullsummenspiel anzusehen. So muß z.B. das Erlernen und der Gebrauch der englischen Sprache ja nicht unweigerlich auf Kosten einer indigenen Sprache gehen. Unser Ziel sollte vielmehr die Zweisprachigkeit sein. Für viele Menschen (außerhalb des westlichen Kulturkreises) ist die Mehrsprachigkeit sowieso die Norm. In Afrika und Südamerika beispielsweise sprechen viele Menschen eine oder mehrere Lokalsprachen neben einer Kolonialsprache wie Französisch, Englisch oder Portugiesisch.

Zudem ermöglicht das Internet auch den Kontakt und den Austausch zwischen Mitgliedern kleinerer Sprachgruppen, die in den bisherigen Massenmedien gar keine Chance der Teilnahme haben. So können sich meinetwegen farsisprachige (1) Orthopäden über Hüftoperationen austauschen.

Und in welcher Art und Weise haben denn die nichtverbalen Kommunikationsmöglichkeiten (Gebärden und Mimik) einen Platz in älteren Medien wie Radio oder Büchern? Im Internet lassen sich doch über Videos, Schaubilder etc. eine Vielzahl von Ausdrucksmöglichkeiten unterbringen. Unsere weltweiten Kommunikationstrukturen sind westlich geprägt, aber ebenso wie Aborigines und Inuit sich Satellitenfernsehen für ihre eigenen kulturellen Zwecke angeeignet haben, so wird dies auch mit dem Internet geschehen. Das Internet ist ein Medium neben vielen, und wenn ich ihm auch ein enormes Potential zuspreche, so heißt das natürlich nicht, daß andere Ausdrucksformen untergehen.

zum Thema: Wenn wir nun von Ihrer Hypothese bezüglich der erstrebenswerten Mehrsprachigkeit für alle Menschen ausgehen und damit etwa Englisch als allgemeine Verkehrssprache voraussetzen, so würde doch allein deren Kenntnis für einen globalen Web-Dialog nicht genügen: Paul Watzlawick etwa wies die Inkompatibilität von Kommunikationskulturen als Ursache für Konflikte in bikulturellen Partnerschaften nach. Dabei ist an fehlendes gemeinsames Wissen um Sprach- und Handlungsbedeutungen, also auch an soziale Regeln und Gebräuche zu denken. Ein iranischer Mufti oder ein traditioneller Thai, beide stark patriarchalisch geprägt, werden mit einer westlichen, sich als gleichberechtigt verstehenden Frau kein Wort wechseln, solange diese Menschen ihre "selbstverständliche" Position nicht aufzugeben oder wenigstens zu relativieren bereit sind. Wenn meine Annahme richtig ist, dann folgt daraus, daß eine weltweit funktionierende Kommunikation zumindest einen kleinsten gemeinsamen Nenner an Kommunikationskultur braucht. Wären das dann nicht zwangsläufig die Bruchstücke westlicher Werte?

Joana Breidenbach: Das zeitgenössische Stadium unserer (unvollständig) globalisierten Welt ist durch etwas geprägt, das ich "kulturvergleichendes Bewußtsein" nennen würde. Menschen überall auf der Welt wissen, daß ihre besondere Lebensweise nur eine unter vielen ist. Das war früher (vor der medialen und technologischen Vernetzung) nur wesentlich begrenzter der Fall. Das heißt noch lange nicht, daß die meisten Gesellschaften nicht ethnozentrisch sind, somit ihre eigenen Werte als unweigerlich besser empfinden als die anderer Gesellschaften.

Ich denke, daß eine "funktionierende Dialogkultur", wie Sie es nennen, die Chance für unsere Welt ist. Wir sind mit massiven, insbesondere ökologischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die nicht von einem Spieler allein mehr gelöst werden können. Ein Dialog ist lebensnotwendig geworden. Die Dialogkultur wird gewiß in zahlreichen Aspekten eine westlich geprägte sein, und in vielen Bereichen bin ich dafür dankbar. Denn viele positiven westlichen Werte und Ideale, z.B. wie Toleranz von Andersartigkeit oder die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, möchte ich nicht durch andere vormoderne Werte ersetzt wissen (wo Andersdenkende in Gefängnissen landen, gefoltert und getötet oder Frauenkörper verstümmelt wurden oder werden).

Gleichzeitig ist es dringend nötig, daß der Westen seine überhebliche "Belehrungskultur" durch eine "Lernkultur" ersetzt. Wir müssen unser imperiales Machtgehabe ablegen und - genau wie jeder andere Partikularismus auch - uns und unsere Weltsicht hinterfragen und zudem bereit sein, aus den Erfahrungen und dem kulturellen Wissen anderer zu lernen. Das ist natürlich ein gewaltiger Bewußtseinsschritt, der hier zu leisten ist, und sein Eintreten ist beileibe kein Automatismus, sondern er muß täglich erkämpft werden. Ich hoffe, daß der Westen aus Fehlern der Vergangenheit lernt und sich auf den Dialog mit anderen einläßt. Die anderen werden den Dialog sowieso nicht mitmachen, wenn sie sich völlig unterrepräsentiert und außerhalb dieser Dialogkultur gelassen wissen.

Ein Beispiel aus dem Horrorland des modernen Fundamentalismus: Afghanistan. Als sich in den 80er Jahren die Amerikaner und Sowjets auf ein Friedensabkommen einigten, sahen sie keine Notwendigkeit die verschiedenen zerstrittenen afghanischen Fraktionen an den Verhandlungstisch zu bitten. Und waren sehr erstaunt, als diese ihren Friedensvertrag ignorierten. Die jetzige Situation ist z.T. auf diese Ignoranz und Überheblichkeit zurückzuführen. Und in einer vernetzten Welt kommen die Probleme auch aus der weiten Ferne auf einen selbst zurück. Afghanistan ist der weltgrößte Drogenexporteur, und Amerika ist der Hauptabnehmer!

zum Thema: Wenn wir nun von der Verbreitung jenes "kulturvergleichenden Bewußtseins" ausgehen, durch welche Werte sehen Sie diese Form der "Globalkultur" geprägt? Sind dies nicht primär solche Werte, deren Verbreitung für den Westen selbst ökonomisch interessant ist - Werte wie Konsum, Konkurrenz, marktwirtschaftliches Denken und dergleichen?

Joana Breidenbach: Nun, ich hoffe, daß sich unter den globalen Werten eben auch jener der Toleranz von Andersartigkeit sowie überhaupt die in der Universellen Deklaration für Menschenrechte festgeschriebenen Werte finden würden. Wie diese dann im konkreten Fall ausgefüllt werden, ist meines Erachtens kulturabhängig und müßte im interkulturellen Dialog erforscht werden. So könnte Einzelhaft, im Westen legitim, in einer stärker gruppenzentrierten Gesellschaft wie der afrikanischen verboten werden. Ebenso könnte Polygamie, im Westen mit der Geschlechtergleichheit nicht vereinbar, beispielsweise in muslimischen Gesellschaften durchaus seine Berechtigung haben.

Auf die von Ihnen angesprochenen vermeintlich im Westen dominanten Werte möchte ich aus Platzgründen nicht weiter eingehen. Nur soviel: zahlreiche ethnologische Untersuchungen weisen darauf hin, daß z.B. Konsum eher als Ausdruck von menschlichen Beziehungen zu verstehen ist denn als Zeichen von Entfremdung und Oberflächlichkeit. Und Konsum selbst ist höchst kulturabhängig. Oder hätten Sie vermutet, daß es Gesellschaften gibt, die Einkaufen als Variante der Jagd betrachten?

zum Thema: Aufgrund der gerade in südlichen Ländern äußerst geringen Verbreitung des Internets wird man wohl davon ausgehen können, daß sich der Prozeß dieses Wertetransfers über das viel stärker verbreitete Medium Fernsehen vollzieht. Gerade bei diesem Medium ist jedoch dessen Dominanz durch eine schwindende Zahl immer größerer Medienkonzerne festzuhalten. Welche Auswirkungen sehen Sie als Anthropologin in dieser Medienstruktur, und glauben Sie, daß das Internet aufgrund seiner horizontalen, non-hierarchischen Struktur eine Alternative zum Informations- und Kultur-Oligopol darstellt?

Joana Breidenbach: Wir sehen zwar eine bedenkliche Monopolisierung der Medienlandschaft, zugleich aber auch deren starke Ausdifferenzierung. Nicht nur im Westen steht dem Fernsehzuschauer eine noch nie vorhandene Bandbreite an Programmen zur Auswahl, die auch spezielle Nischen berücksichtigen (in Europa etwa die diversen transnationalen und nationalen Nachrichtensender, ARTE, regionale Programme etc.).

Zugleich haben Medienwissenschaftler und Ethnologen herausgearbeitet, daß auch globale Medien höchst unterschiedlich von Menschen interpretiert werden. So haben Kommunikationsforscher anhand der Untersuchung verschiedener Gesellschaftsgruppen in Israel gezeigt, wie höchst divers selbst die globale Soap-opera schlechthin, nämlich "Dallas", aufgenommen und verstanden wird. In Japan, Kalifornien, Algerien und Deutschland sind wiederum andere Lesarten von "Dallas" analysiert worden. Wir können einfach nicht locker von uns auf andere schließen, sondern müssen dezentralere Perspektiven einnehmen (eine der großen Stärken der Ethnologie), um die Auswirkungen der kulturellen Globalisierung einschätzen zu können.

Des weiteren gibt es viele Beispiele für in der eigenen Gesellschaft marginalisierte Gruppen, die sich Medientechnologien aneignen und diese zur Förderung ihrer kulturellen und politischen Zwecke einsetzen. Sowohl die Inuit in Alaska und Kanada als auch die australischen Aborigines kontrollieren zahlreiche Fernseh- und Radiostationen, bringen ihre eigenen Inhalte auf eine ihrer Weltsicht entsprechenden Art und Weise ein. So dürfen bestimmte Themen bei den Inuit nur von Älteren behandelt werden, und auch der in Nordamerika dominante Präsentationsstil wird als mit eigenen Werten inkompatibel abgelehnt.

Durch moderne Medien werden vom Aussterben bedrohtes Wissen, indigene Sprachen etc. verbreitet und wiederbelebt. In dem Moment, in dem man sich nicht nur Strukturen, sondern auch Bedeutungen ansieht, verliert das bestehende "Informations- und Kultur-Oligopol" einiges von seiner Eindeutigkeit. Und diese Chance der kulturellen Ausdifferenzierung ist beim Internet in noch wesentlich stärkerem Maße gegeben. Welchen Gebrauch Gesellschaften davon machen, hängt von ihnen selbst und von der Art und Weise ab, wie wir schwächere und ökologisch benachteiligte Staaten bei ihrer Selbstbestimmung und Teilnahme an den kommunikationsmedialen Strukturen unterstützen.

zum Thema: Wenn vom Internet als jenem Heilmittel mit dem großen Entwicklungspotential die Rede ist, denkt man unweigerlich an den von der Weltbank strapazierten Begriff des "Leapfrog", jenes Entwicklungs-Bocksprunges aus dem Agrarzeitalter über die Stufe der Industrialisierung hinweg direkt in die Phase der Wissensgesellschaft. Nicht zuletzt gilt ja Wissen als die zentrale Wirtschaftsressource des anbrechenden 21. Jh., und das Web wird beinahe schon mit "purer Information" - mit einer gigantischen, billig zu bewirtschaftenden Datenbank - gleichgesetzt.
So schrieb der nigerianische Kunsthistoriker Olu Oguibe in seinem einführenden Statement zum derzeit laufenden Internet-Forum des Berliner "Hauses der Kulturen der Welt" über den globalen Kulturaustausch per Internet (1): "Nevertheless, there is no gainsaying that our ability to access information and knowledge about others, has been immensely enhanced by the Internet, and that such knowledge is the foundation for greater cultural understanding, and cooperation."

Dazu ist anzumerken, daß Wissen, entgegen den Darstellungen der Weltbank in ihrem diesjährigen Entwicklungsbericht "Knowledge and Development", keine allkompatible Sache wie Geld oder Energie ist. Wissen ist immer kontextbezogen, sowohl was die Erfaßbarkeit als auch die Einsetzbarkeit von Wissen anbelangt. Worin sollte also der große Nutzen des Zuganges zu hochkomplexen Texten internationaler Organisationen oder den Pamela-Anderson-Pornoseiten für jemanden liegen, der, bei vorausgesetzten Lese- und Sprachfähigkeiten, als Kleinbauer in Afrika oder als Slumbewohner in Südamerika nach einer Lösung für den Hunger seiner Kinder sucht? Reduziert nicht die im Web vorherrschende "Wissenskultur", die sich weitgehend an westlichen Bedürfnissen orientiert, den Nutzungsgrad für potentielle User aus der "Peripherie"? Und wird damit nicht vielmehr vom Westen als allgemeingültig auferlegt, daß allein seine Lösungsstrategien und seine Kulturmuster sinnvoll und zielführend seien?

Joana Breidenbach: Das Internet ist ja nicht nur eine große hegemoniale Wissensdatenbank, sondern sie kann lokal für die unterschiedlichsten Zwecke eingesetzt werden. Die Industrieländer haben sicher andere Bedürfnisse und verfolgen mit den Neuen Medien andere Zwecke als die Staaten des Südens. Während wir im Westen z.B. das Ziel haben, jedem Individuum seinen eigenen Internetzugang zu verschaffen, so ist z.B. in afrikanischen Staaten der kollektive Einsatz wahrscheinlicher und sinnvoller. In Südafrika beispielsweise werden Internetzugänge in kommunalen Einrichtungen (Bürgerzentren u.ä.) eingerichtet und verschaffen Menschen vor Ort z.B. die Möglichkeit des Preisvergleichs (etwa in Sachen Wohnungsbau), aber auch der politischen Transparenz (von wem wird welche Entscheidung getroffen? An wen muß ich mich bei Problem X wenden?).

Vielfältige (aber immer noch viel zu wenige) Projekte sind damit heute beschäftigt, lokale Inhalte für lokale Probleme und Themen multimedial aufzubereiten. Und hier könnte man sogar argumentieren, daß das Internet durch seinen stark visuellen Charakter manchen Gesellschaften näher komme als unserer sehr schriftbezogenen westlichen Kultur. Derlei gälte es eben zu erforschen.

Im BBC Worldservice kann man immer wieder sehr schöne und überzeugende Beispiele für die Chancen und die Nutzung der Neuen Medien in der sog. Peripherie hören. So sind guatemaltekische Maya-Bauern übers Internet an Abnehmer - in den USA ebenso wie in Europa - für ihre organisch erzeugten Agrarprodukte gekommen, chinesische Dissidenten kommunizieren mit transnationalen NGOs, und westafrikanische Frauen finden Unterstützung für ihren Kampf gegen die weibliche Beschneidung; kolumbianische Künstler finden Ausstellungsmöglichkeiten in Nordamerika, Slumbewohner in Südafrika verbessern ihre Berufschancen, indem sie Zugriff auf einen Lehrgang haben, der ihnen das Schreiben eines Lebenslaufs beibringt (insofern wird eine gut gemachte Lernsoftware in Zukunft auch kulturelle Differenzen einbeziehen!).....

Ein schönes Beispiel für die widerspenstige Art, wie das Medium Internet genutzt wird, ist beispielsweise die Tatsache, daß viele Geschäftsfrauen in den Vereinigten Arabischen Emiraten dem Verbot mit fremden Männern zu sprechen dadurch Rechnung tragen, daß sie ihre Geschäfte über E-Mail und Internet abwickeln. So können die Frauen sich den Regeln ihrer Kultur konform verhalten (keinen Kontakt mit fremden Männern) und trotzdem geschäftstüchtig sein (wogegen der Koran nichts einzuwenden hat). Hier überwinden die Neuen Medien Barrieren der Traditionen und stabilisieren sie gleichzeitig.

zum Thema: Das sind zweifellos Einsatzmöglichkeiten des Internets, die einen optimistisch stimmen, die aber auch, in Anbetracht der gravierenden Zugangsbarrieren wie Armut, mangelnde Grundschulbildung und der weitreichende Mangel jeglicher Infrastruktur, bislang nur einer extrem kleinen Minorität zum Vorteil gereichen. Zweifellos tut sich viel, damit eine dieser Barrieren, das Ausmaß der infrastrukturellen Unterversorgung, verringert werden kann. Doch gerade durch diese anbrechende Expansionseuphorie drohen die stets knappen Kapitalressourcen von "unrentablen" Armutsbekämpfungsprojekten zu lukrativen Infrastrukturprojekten umgeleitet zu werden - zu Lasten der schon jetzt marginalisierten Bevölkerungsteile, doch zugunsten von Großunternehmen wie AT&T.

Der Schuldenberg von über zwei Billionen Dollar, der bereits auf den Entwicklungsländern lastet, wird zwar weiter wachsen - allein in Südafrika sollen in den nächsten Jahren 28 Mrd. $ investiert werden, um eine Dichte von zehn Telefonleitungen pro 1000 Einwohner zu erreichen - doch sollen derartige Investitionen gerade unter dem Weltbank-Diktat der staatlichen Rationalisierungsmaßnahmen primär der Steigerung der "Wettbewerbsfähigkeit", nicht aber der Verteilungsgerechtigkeit dienen. Das zeigt sich am Beispiel Indien, wo nur 140000 der 570000 Dörfer ans Telefonnetz angeschlossen sind. Auf eine internationale Ausschreibung der Regierung sind für 8 der 13 Regionen nicht einmal Angebote eingegangen, weil diese Arbeiten nicht genügend Gewinn versprachen: Für 80% des Telecom-Umsatzes sorgen lediglich 3% der indischen Telefonbesitzer, wohingegen das Unternehmen an der Mehrzahl der Menschen nichts verdienen kann.

Wird insofern durch den Prozeß der Netzexpansion nicht ein weiterer Schritt zur Implantierung der westlichen Markt- und Konkurrenzkultur und damit zur Vertiefung des Nord-Süd-Gefälles unternommen? Schimmert zwischen der enthusiastischen Web-Befürwortung, die soziale und politische Strukturen der zu "entwickelnden" Menschen zumeist ausblendet, nicht eine Renaissance der gescheiterten "Staudamm-Entwicklungshilfe" der 50er- und 60erJahre hindurch?

Joana Breidenbach: Es mag ja sein, daß die Web-Apologeten über soziale und politische Strukturen hinwegsehen. Doch von denen lebt ja das Netz nicht, sondern von den vielen einzelnen Teilnehmern. Natürlich dürfen Projekte, welche die Grundversorgung einer Gesellschaft sichern, nicht gegen Kommunikationsstrukturen eingetauscht werden. Aber die Hilfe, um den Anschluß an die Informationstechnologie nicht zu verlieren, erachte ich als notwendig. Es geht um Ermächtigung zur Teilnahme und freien Ausgestaltung der vorhandenen Technologiestrukturen. Und Kulturen unterscheiden sich ja nicht nur voneinander, sie haben ja auch viele (und immer mehr) Gemeinsamkeiten. Die Transparenz von Herrschaftswissen (z.B. indem Gesetzestexte leicht zugänglich gemacht oder medizinische Grundkenntnisse verbreitet werden), die Kommunikation mit Gleichgesinnten oder etwa die Suche nach Abnehmern und Produzenten für hergestellte Waren sind, wie viele andere Dinge auch, für Menschen überall von Nutzen.

zum Thema: Ich danke für diesen E-Mail-Diskurs.


Dr. Joana Breidenbach ist Ethnologin und Autorin des gemeinsam mit Ina Zukrigl verfaßten Buches "Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt", erschienen im Kunstmann Verlag München 1998. Dr. Breidenbach lebt in Berlin.


Anmerkungen:

(1) Farsi ist die Landessprache des Iran.
(2) Das internationale Internet-"Forum des Hauses der Kulturen der Welt: Kultureller Austausch via Internet - Chancen und Strategien" (http://www.hkw.de/forum/forum1/english.html), an dem sich auch die Autorin mit Beiträgen über die "Globale Kultur" beteiligte, läuft seit dem 12 Oktober 1998.



"zum Thema:" Nr. 24, 30.12.1998